Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort bei Verzicht des Unfallgeschädigten auf Herbeirufen der Polizei? – OLG Hamburg, Beschluss vom 30.05.2017 – 2 Rev 35/17

Alle Jahre wieder sind Konstellationen im Verkehrsstrafrecht in der Kanzlei anzutreffen, bei denen der Verzicht auf das Herbeirufen der Polizei durch einen Unfallbeteiligten einen besonderen Problemkreis darstellt. Vorab bedarf es für das Verständnis des Straftatbestandes „Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“ – oder auch umgangssprachlich als „Unfallflucht“ bezeichnet –, der Klarstellung, was unter einem Unfallbeteiligten zu verstehen ist bzw. welcher Personenkreis hierunter fällt. Dies ist ausnahmsweise mal direkt aus dem Strafgesetzbuch zu entnehmen: Nach § 142 Abs. 5 StGB ist Unfallbeteiligter jeder, dessen Verhalten nach den Umständen zur Verursachung des Unfalls beigetragen haben kann. Dies bedeutet, dass die nunmehrigen Ausführungen sich ausschließlich auf einen Personenkreis mit Verursachungsbeitrag zum Unfallgeschehen beziehen und damit Personen ausscheiden, die keinen Beitrag im kausalen Sinne zum Verkehrsunfallgeschehen hinzugetragen haben.

 

Nunmehr aber zum Kern des Beschlusses des OLG Hamburg. Die Angeklagte (A), welche Unfallbeteiligter an einem Verkehrsunfall war, wurde in den Vorinstanzen trotz Verzichts der Unfallgeschädigten (B) auf Herbeirufen der Polizei wegen Unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe und einem Fahrverbot von einem Monat verurteilt. Obwohl die B zunächst die Polizei rufen wollte, verzichtete die A schließlich darauf. In der Folge fertigte B stattdessen Fotos von den Fahrzeugen an und wollte außerdem die Personalien der A ausgehändigt haben. Jedoch weigerte die A die Herausgabe ihrer Personalien gegenüber der B. Vielmehr wollte A die Personalien nur durch die Polizei feststellen lassen. Nachdem die B auch nach 15 Minuten immer noch nicht die Polizei gerufen hatte, fuhr die A schließlich weiter.

 

Das OLG Hamburg stellte fest, dass die A sich vom Unfallort entfernen durfte. Die B habe sich offensichtlich dazu entschlossen, auf die Hilfe der Polizei bei der Feststellung der Personalien der A zu verzichten, obwohl diese dazu nur gegenüber der Polizei bereit war. In dieser Situation sei die A nicht mehr zur weiteren Anwesenheit am Unfallort verpflichtet gewesen.

 

Hierzu heißt es im Beschluss:

 

Nach diesen Feststellungen hat die Angeklagte nicht den objektiven Tatbestand des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllt. Danach wird ein Unfallbeteiligter bestraft, der sich nach einem Unfall im Straßenverkehr vom Unfallort entfernt, bevor er zugunsten der anderen Unfallbeteiligten und der Geschädigten die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung durch seine Anwesenheit und durch die Angabe, dass er an dem Unfall beteiligt ist, ermöglicht hat. Ein Unfallbeteiligter ist nach § 142 Abs. 5 StGB jeder, dessen Verhalten nach den Umständen zur Verursachung des Unfalls beigetragen haben kann. (…)Denn indem sich die Angeklagte gegen den Willen der Zeugin von der Unfallstelle entfernte, verstieß sie nicht in tatbestandsmäßiger Weise gegen die in § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB begründeten Pflichten. Dies ergibt eine nach Maßgabe des Schutzzwecks von § 142 StGB vorzunehmende teleologische Reduktion des Tatbestandes. Der Schutzzweck des § 142 StGB besteht darin, „Feststellungen zur Klärung der durch einen Unfall entstandenen zivilrechtlichen Ansprüche zu sichern, d.h. die Durchsetzung berechtigter oder die Abwehr unberechtigter Ansprüche zu ermöglichen“ (BTDrucks. 7/2434, S.5). Weitere, über diesen Schutzzweck hinausgehende Rechtsgüter, namentlich das öffentliche Interesse an der allgemeinen Verkehrssicherheit, werden von § 142 StGB nicht geschützt (ganz h.M., vgl. nur Fischer § 142 Rn. 2 m.w.N.). Es handelt sich somit um ein abstraktes Vermögensgefährdungsdelikt individualschützender Art (LK-Geppert a.a.O., Rn. 1). Um das Erreichen des erstrebten Rechtsgutsschutzes zu gewährleisten, hat der Gesetzgeber für den hier einschlägigen Fall, dass feststellungsbereite Personen am Unfallort anwesend sind, in § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB zunächst die Pflicht eines Unfallbeteiligten statuiert, durch seine Anwesenheit am Unfallort die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung zu ermöglichen (nach üblicher Terminologie sog. „Feststellungsduldungspflicht“; vgl. hierzu Küper, GA 1994, 49, 51f.). Zudem muss er diese Feststellungen auch aktiv, nämlich durch die Angabe, dass er an dem Unfall beteiligt ist, ermöglichen (sog. „Vorstellungspflicht“). Insoweit wird der Grundsatz, der nur passiven Feststellungsduldungspflicht durchbrochen, „damit […] solchen Fällen begegnet werden kann, wo der Schädiger zwar pflichtgemäß gewartet, sich aber nicht als Unfallbeteiligter zu erkennen gegeben hat“ (BTDrucks. a.a.O., S. 7). Durch die Verletzung dieser Verhaltenspflichten, deren Inhalt und Grenzen für die Interpretation des Tatbestandes somit bestimmend sind (Küper, JZ 1988, 473), wird das tatbestandliche Unrecht begründet (LK-Geppert a.a.O., Rn. 95). Die Vorstellungspflicht als „Minimalpflicht aktiver Mitwirkung“ (BTDrucks. a.a.O.) verlangt von dem Unfallbeteiligten lediglich die Angabe, dass ein Unfall geschehen und er daran beteiligt ist. Zu darüber hinaus gehenden Angaben, namentlich dem Geschädigten seine Personalien mitzuteilen, ist der Unfallbeteiligte nicht verpflichtet (ganz h.M., vgl. nur LK-Geppert a.a.O., Rn. 98 m.w.N.). Insoweit reichen die strafrechtlichen Verhaltenspflichten nicht so weit, wie die straßenverkehrsrechtlichen Pflichten eines Unfallbeteiligten (vgl. § 34 Abs. 1 Nr. 5b StVO). Da die Durchsetzung oder Abwehr zivilrechtlicher Ansprüche ohne Kenntnis der Personalien des Unfallbeteiligten regelmäßig gefährdet ist und allein die Anwesenheit des Unfallbeteiligten die feststellungsbereite Person grundsätzlich nicht in die Lage versetzt, die Personalien festzustellen, muss der Unfallbeteiligte, der diese Angaben und ihre Überprüfung verweigert, das Eintreffen der herbeigerufenen Polizei abwarten (h.M., vgl. nur Fischer a.a.O., Rn. 28 m.w.N.). Diese ist in der Regel zumindest aufgrund der subsidiären polizeilichen Zuständigkeit zur Gefahrenabwehr (vgl. § 3 HmbSOG) befugt, zur Sicherung der zivilrechtlichen Ansprüche auch solche Maßnahmen, namentlich die Durchsetzung der Identitätsfeststellung, zu treffen, die dem privaten Feststellungsberechtigten tatsächlich oder rechtlich nicht möglich sind (MK-Zopfs § 142 Rn. 66; Küper a.a.O., 476 Fn. 20). Die Pflicht, das Eintreffen der Polizei abzuwarten, setzt allerdings begrifflich voraus, dass diese von dem Feststellungsberechtigten auch tatsächlich herbeigerufen worden ist. Tut er dies nicht, begibt er sich – sofern es sich bei der feststellungsberechtigten Person zugleich um den möglicherweise geschädigten Anspruchsinhaber handelt – des durch den Tatbestand des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu gewährleistenden strafrechtlichen Schutzes seiner Vermögensinteressen. Dies bedingt vor dem Hintergrund des geschützten Individualrechtsguts eine teleologische Reduktion des Tatbestandes des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB dahingehend, dass der Unfallbeteiligte bei dieser Sachlage nicht mehr verpflichtet ist, durch seine weitere Anwesenheit am Unfallort Feststellungen zu seiner Person zu ermöglichen (vgl. allgemein zur teleologischen Reduzierung des Tatbestandes des § 142 Abs. 1 StGB: LK-Geppert a.a.O., Rn. 71ff.). Zwar wird der Unfallbeteiligte nicht schon dann von seiner Anwesenheitspflicht frei, wenn der Geschädigte lediglich private Auskunft über dessen Personalien wünscht und bei Verweigerung keine anderweitigen Identifizierungsmaßnahmen veranlasst. Darin muss nicht zwingend ein durch schlüssiges Verhalten zum Ausdruck gebrachter stillschweigender Verzicht auf Feststellungen zu sehen sein (vgl. BayObLG, Beschluss vom 5. Februar 1992, Az.: 1 St 278/91, NZV 1992, 245, 246). Vielmehr muss der Unfallbeteiligte dem Geschädigten eine reale Chance einräumen, Feststellungen zur Person am Unfallort treffen zu können. Dies bedeutet, dass er sich nach seiner Weigerung, seine Personalien anzugeben, sich nicht sogleich entfernen darf, wenn der Geschädigte, dem insoweit grundsätzlich eine gewisse Überlegungsfrist einzuräumen ist, nicht sofort die Polizei verständigt. Denn der Unfallbeteiligte ist grundsätzlich bis zum endgültigen Weggang der zur Feststellung berechtigten Personen zur Anwesenheit am Unfallort verpflichtet. Insoweit bestimmt der Feststellungsberechtigte weitgehend darüber, wie lange der Unfallbeteiligte am Unfallort anwesend zu sein hat (Küper a.a.O., 478). Dies ist grundsätzlich nicht unbillig, da es dem Unfallbeteiligten unbenommen bleibt, seine Verweigerungshaltung aufzugeben und über seine Anwesenheitspflicht hinaus durch eigene aktive Mitwirkung die feststellungsbereite Person in die Lage zu versetzen, die erforderlichen Feststellungen selbst treffen zu können (MK-Zopfs a.a.O., Rn. 66). Wenn sich aber der Geschädigte bereits dazu entschlossen hat, die Polizei nicht zu verständigen, obwohl der Unfallbeteiligte sich ihm gegenüber gerade nicht ausweisen will, sondern nur bereit ist, seine Personalien von der Polizei feststellen zu lassen, dann hat unter dem Gesichtspunkt des geschützten Rechtsguts des „Beweissicherungsinteresses“ die weitere Anwesenheit des Unfallbeteiligten am Unfallort – die nach der gesetzlichen Konzeption die Aufklärungschancen des Geschädigten normativ garantieren soll – keine effektive Funktion mehr (vgl. Küper, GA 1994, 49, 71f.). Bei dieser Sachlage nutzt der Geschädigte die einzig ihm noch verbliebene, rechtlich zulässige Handlungsoption zur Durchsetzung seines Feststellungsinteresses aus allein von ihm zu vertretenden Gründen nicht. Andere zulässige Möglichkeiten zur Feststellung der Personalien des Unfallbeteiligten existieren nicht und können folglich auch nicht beeinträchtigt werden, wenn sich der Unfallbeteiligte schließlich vom Unfallort entfernt. Der Geschädigte hat die Nichterfüllung seines Feststellungsinteresses letztlich selbst zu vertreten (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 10. Januar 1989, Az.: Ss 725/88, OLGSt StGB § 142 Nr. 6, S. 5). Gemessen an diesen Grundsätzen durfte sich die Angeklagte vorliegend vom Unfallort entfernen. Der Tatbestand des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist dadurch nicht erfüllt worden. Die Zeugin hatte – wie ausgeführt – nur die Möglichkeit, mit Hilfe der Polizei die erforderlichen Feststellungen in rechtlich zulässiger Weise zu treffen, nachdem die Angeklagte die Angabe ihrer Personalien verweigert hatte. Ihre Ankündigung, die Polizei holen zu wollen, setzte sie indes nicht in die Tat um, obwohl sich die Angeklagte bereit zeigte, das Eintreffen der Polizei abzuwarten. Statt die Polizei anzurufen, nahm die Zeugin zunächst Lichtbilder „von den in den Unfall verwickelten Fahrzeugen“ auf, und bedrängte sodann die wieder in ihrem Pkw sitzende Angeklagte auf unzulässige Weise, namentlich durch mehrfaches Öffnen der Fahrertür, doch noch „ihre persönlichen Daten zu nennen“. Das Verhalten der Zeugin belegt, dass sie sich entgegen ihrer eigenen Ankündigung dazu entschlossen hatte, auf die Hilfe der Polizei bei der Feststellung der Personalien der Angeklagten zu verzichten, was durch den weiteren Umstand bestätigt wird, dass sie erst am übernächsten Tag Anzeige bei der Polizei gegen die Angeklagte erstattete. In dieser Situation war die Angeklagte nach den dargestellten Grundsätzen nicht mehr zur weiteren Anwesenheit am Unfallort verpflichtet, zumal Feststellungen zur Art ihrer Beteiligung sowie zu ihrem Fahrzeug ersichtlich nicht mehr erforderlich waren, da diese Umstände der Zeugin, die von den Fahrzeugen bereits Lichtbilder aufgenommen hatte, bekannt waren. Da bereits der objektive Tatbestand entfällt, ist es mangels Versuchsstrafbarkeit schließlich ohne Belang, falls – was nach den getroffenen Feststellungen eher fernliegt – sich die Angeklagte möglicherweise in dem Glauben vom Unfallort entfernt haben sollte, die Polizei sei bereits von der Zeugin verständigt worden. Infolge der teleologischen Reduktion des Tatbestandes hat die Angeklagte nicht ihre aus § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB folgenden Pflichten verletzt. Für eine Strafbarkeit aus dem Ergänzungstatbestand des § 142 Abs. 2 StGB bleibt daher kein Raum, so dass die Angeklagte endgültig straffrei bleibt (vgl. LK-Geppert a.a.O., Rn. 59, 71).

 

Somit war das Urteil des Landgerichts Hamburg aufzuheben und die Angeklagte im Ergebnis freizusprechen.