Medizin- und Arzthaftungsrecht: Rückfall des Patienten am Tag der Entlassung aus der Suchtklinik – Ein Indiz für einen offensichtlichen Behandlungsfehler?
In Deutschland gibt es schätzungsweise 1,6 bis 2,4 Millionen alkoholabhängige Menschen, so dass im Schnitt jeder 40te von diesem Suchtbild betroffen ist. Da die Alkoholabhängigkeit als Krankheit anerkannt ist, insbesondere aufgrund der schwerwiegenden körperlichen und geistigen Folgebeeinträchtigungen, erden die Kosten für den medizinisch und psychologisch begleitenden Alkoholentzug zum größten Teil – sofern nicht der Rentenversicherungsträger einstandspflichtig ist – von den Gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Allerdings sind die Erfolge einer Suchttherapie nicht selten mit Rückschlägen verbunden – insbesondere in der Nachsorge- und Rehabilitationsphase – und der Patient bedarf einer erneuten Therapiebehandlung. Hier stellt sich nur selten die Frage, insbesondere in Hinblick auf die finanziellen Ausgaben der jeweiligen Krankenkasse, ob die suchtmedizinische Behandlung durch die jeweilige medizinische Einrichtung bzw. Arzt fehlerfrei durchgeführt wurde, denn ein Rückfall hängt von zahlreichen Faktoren ab. Allerdings drängt sich dann die Frage eines möglichen Behandlungsfehlers auf, wenn der Patient unmittelbar am Tag seiner Entlassung rückfällig geworden ist.
Einen solche Sachverhaltskonstellation hatte das OLG Koblenz zur Entscheidung vorliegen. Hierbei ging es um einen Patienten, bei dem bereits seit seinem 20. Lebensjahr eine Alkoholabhängigkeit bestand. Seit dem Jahr 1991 wurden bei ihm drei Entwöhnungsbehandlungen und 25 Entgiftungsbehandlungen durchgeführt. Nach sämtlichen Behandlungen kam es zu Rückfällen. Von Mitte Februar 2010 bis Mitte April 2010 befand sich der Patient zu einer weiteren stationären Entwöhnungsbehandlung in einer medizinischen Einrichtung für Suchterkrankungen. Dort nahm er an einem umfangreichen Therapieprogramm teil. Unmittelbar am Entlassungstag konsumierte der Patient Alkohol und erlitt hierdurch einen Rückfall. Aufgrund dessen erhob er Klage gegen den Betreiber der Suchteinrichtung sowie gegen die behandelnden bzw. zuständigen Ärzte. Er begründete seine Klage im Wesentlichen mit dem Argument, dass der Rückfall die Folge einer unzureichenden Behandlung war; insbesondere sei die Ursache seiner Abhängigkeit nicht hinreichend ermittelt und nicht im Wege einer individuell auf ihn angepassten Therapie behandelt worden.
Das OLG Koblenz verneinte im Ergebnis einen Behandlungsfehler und führte hierzu folgendes aus:
Voraussetzung für eine vertragliche bzw. deliktische Einstandspflicht ist das Vorliegen eines Behandlungsfehlers, also eine Verletzung des suchtmedizinischen Facharztstandards. Diesen hat - ebenso wie den Ursachenzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem geltend gemachten Gesundheitsschaden - der Kläger zu beweisen. Allein der Misserfolg der ärztlichen Behandlungsmaßnahme bzw. der Eintritt eines Schadens genügt folglich nicht zur Haftungsbegründung. (...) Die Gestaltung der Therapie während des Entwöhnungsaufenthalts in der Suchtklinik der Beklagten (...) begegnet keinen Bedenken. Generell ist die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes, dem bei seiner Entscheidung ein weites Ermessen zusteht, soweit nicht eine Behandlungsmethode zwingend indiziert ist. Daher beantwortet sich die Frage, ob dem Arzt bei der Wahl der Therapiemethode ein Behandlungsfehler unterlaufen ist danach, ob er im konkreten Fall eine vertretbare Entscheidung über die therapeutischen Maßnahmen getroffen hat. (...) Die von ihr aufgezählten einzelnen angebotenen und beim Patient angewandten Maßnahmen seien umfangreich und ausreichend gewesen. Sie hat auch in ihrer persönlichen Anhörung hervorgehoben, dass sie keine weiteren Therapiemaßnahmen sieht, die sie selbst (noch) angeordnet hätte. Die wesentlichen Behandlungselemente wie die Vermittlung in Selbsthilfegruppen, die Vor- und Nachbereitung der Teilnahme an Selbsthilfegruppen, die Einleitung spezieller Nachsorgeangebote, das Angebot psychoedukativer sowie problem- und störungsorientierter Gruppen zur Stressbewältigung und dem Umgang mit Alkohol, ein soziales Kompetenztraining, der Umgang mit Angst und Depression, autogenes Training, störungsunspezifischer verhaltenstherapeutischer Psychotherapie sowie Maßnahmen zur Rückfallprävention und dem Umgang mit Angst und Depression hat die Sachverständige hierbei berücksichtigt. Sie hat weiter klargestellt, dass keine Therapiemaßnahmen, die indiziert gewesen seien, verabsäumt wurden. Das Behandlungskonzept sei vielmehr vollständig, qualitätszertifiziert und leitliniengerecht. Entgegen der Auffassung des Klägers habe es auch keiner stärkeren Individualisierung des Behandlungsprogramms bedurft. Das Therapiekonzept habe bereits individuell eine einzelfallbezogene Therapiemaßnahme vorgesehen. Insbesondere habe der Patient umfassende einzelpsychotherapeutische Behandlungen erhalten. So seien während des Entwöhnungsaufenthalts sieben Therapiesitzungen à 20 Minuten, drei Therapiesitzungen à 60 Minuten und drei Therapiesitzungen à 90 Minuten angeboten worden. Dies sei auch im Vergleich mit anderen Patienten eine sehr einzelfallorientierte Therapie. Auf der Grundlage dieser keinen inhaltlichen Zweifeln begegnenden Ausführungen der Sachverständigen vermag der Senat keinen Behandlungsfehler bei der Therapiegestaltung durch die Beklagten festzustellen. (...) Auch der Vorwurf des Klägers, der Patient sei zu früh entlassen worden, vermag keinen Behandlungsfehlervorwurf zu begründen. Die Sachverständige (...) hat insoweit ausgeführt, dass die Langzeittherapie beim Patient ausreichend gewesen sei. Dieser habe die reguläre Therapiedauer von acht Wochen absolviert. Eine längere Therapie sei nicht veranlasst gewesen. Generell gebe es in der wissenschaftlichen Literatur keine gesicherten Erkenntnisse, wie lange eine stationäre Langzeittherapie dauern solle. Eine Therapie über acht Wochen hinaus erfordere jedoch bestimmte gesundheitliche Faktoren, die beim Patient nicht gegeben gewesen seien. So könne für eine längere Therapiedauer z.B. eine schwere somatische Erkrankung, schwere psychiatrische Begleiterkrankungen oder eine schwere hirnorganische Beeinträchtigung sprechen. All dies sei indes beim Patient nicht gegeben gewesen. Im Rahmen der Erläuterung des Gutachtens hob sie die Notwendigkeit der Eigenmotivation des Patienten hervor, der gegenüber der Länge der Therapie die höhere Bedeutung zukomme.
Es bleibt im Ergebnis abermals und zu Recht bei einer Einzelfallbetrachtung des jeweiligen Behandlungsverlaufs. Alleinig der zeitnahe Rückfall am Tag der Entlassung ist lediglich als Indiz für einen Behandlungsfehler zu werten, wobei eine nähere Betrachtung der medizinischen und psychologischen Therapiebehandlung erfolgen muss, um letztendlich einen solchen Fehler zu bejahen oder auszuschließen. Eine solche Aufarbeitung muss zwingend im außergerichtlichen Bereich mit fachkundigen medizinischen Personal erfolgen, um die Erfolgsaussichten des gerichtlichen Verfahrens einschätzen zu können. Ob im o.g. Sachverhalt eine außergerichtliche Auseinandersetzung mit den medizinisch angewandten Methoden erfolgte, kann m.E. stark bezweifelt werden.
OLG Koblenz, Urteil vom 23.12.2015 – 5 U 938/14
vorgehend LG Koblenz, Urteil vom 10. Juli 2014 - 1 O 32/14
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